Was ist Blended Care? – Eine Einführung von Vanessa Murri

Heute bilden psychische Krankheiten die drittgrößte Diagnosegruppe bei Krankschreibungen und Arbeitsunfähigkeit. Angststörungen, depressive Einschränkungen, Substanzmissbrauch und somatoforme Störungen treten dabei am häufigsten auf. Blended Care ist ein Konzept, das versucht, darauf Antworten zu finden und Psychotherapie verständlicher, zugänglicher und vor allem effizienter zu gestalten.

Denn die Behandlung ist bisweilen teuer: Rund 23 Milliarden Euro Kosten muss der Staat jährlich für den psychologischen Gesundheitssektor aufbringen, weitaus mehr als für Behandlungsformate für Erkrankungen des Verdauungssystems, Herz-Kreislauferkrankungen, Erkrankungen der Atemwege, Verletzungen und Vergiftungen.

In Deutschland gibt es unterschiedliche medizinische Ansätze, um psychische Erkrankungen und Belastungsstörungen zu behandeln. Patienten werden entweder ambulant oder stationär versorgt, oftmals in einer Kombination aus psychotherapeutischer Unterstützung und medikamentöser Behandlung. Der Patient kann sich außerdem für eine Psychotherapie bei einem niedergelassenen Psychologischen Psychotherapeuten entscheiden oder sich über eine medizinische Rehabilitation versorgen lassen.

Trotz des steigenden Bedarfs weist der psychologische Gesundheitssektor jedoch noch immer erhebliche Mängel auf. Lange Wartezeiten auf Therapieplätze bleiben ein zentrales Problem – je nach Bundesland warten Patienten bis zu einem Jahr, im Durchschnitt 4,6 Monate. Es besteht insgesamt eine hohe Rückfall: ein Drittel der entlassenen Patienten erleiden in den folgenden zwei Jahren einen Rückfall. Dazu hängt Zugang und Qualität der therapeutischen Versorgung stark vom Wohnort des Patienten ab – zu hoher Andrang in städtischen Kliniken, lange Fahrzeiten in ländlichen Gebieten. Blended Care ist der Gedanke, dieser Problematik eine digitale Lösung anzubieten, die im klinischen Alltag des Psychologen angewendet und mit therapeutischen Sitzungen kombiniert werden können.

E-Health-Angebote in der Psychotherapie haben verschiedene Facetten: Von digitalen Testverfahren zur Unterstützung des Therapeuten in der Diagnostik, über therapeutische Übungen und Tagebuch-Funktionen, die eigens vom Therapeuten oder Arzt ausgewählt und dem Patienten zur Verfügung gestellt werden, bis hin zu medialen Aufklärungsmodulen, wie zum Beispiel interaktive und leicht verständliche Videoformate. Dazu gibt es Module, die auf bestimmte Krankheitsbilder, zum Beispiel Depressionen, zugeschnitten sind.

Auch die klassischen Therapie-Sitzungen müssen nicht zwingend an das Behandlungszimmer gebunden sein, Telefon- und Video-Sitzungen haben sich ebenfalls als effektiv erweisen können. Qualifizierte Apps im Bereich Prävention und Nachsorge können begleitend zum therapeutischen Prozess die Motivation des Patienten und sein Bewusstsein für Eigenverantwortung stärken. Denn manchen Patienten fällt es schlichtweg schwer, den Therapeuten in der Praxis aufzusuchen oder sie haben Schwierigkeiten, nach Beendigung der Therapie eigenständig Rückfälle vorzubeugen. Entgegen der weit verbreiteten Meinung, digitale Medien würden oft nur von Generationen unter dreißig genutzt, liefern aktuelle Studien überraschende Erkenntnisse: Ein Großteil der Nutzer von Gesundheits- und Präventions-Apps ist zwischen 50 und 56 Jahren alt.

Was bleibt, ist der kritische Aspekt von Kosten und Zeit: Der psychologische Gesundheitssektor braucht dringend ein System der Effizienz, um steigende Anforderungen überhaupt bewältigen zu können. Dabei geht es nicht um Profite, sondern vor allem um eine Struktur. Ein gutes Beispiel ist das Diagnostik-Testverfahren: Ausgefüllte Bögen müssten in Zukunft nicht mehr gedruckt und aufwändig ausgewertet werden, die Ergebnisse sind unmittelbar nach dem Ausfüllen am Computer sichtbar. Manche Formate verfolgen sogar den Ansatz, mittels analytischer Programme verbale Kommunikation auf spezielle, sprachliche Auffälligkeiten zu untersuchen. Auf diesem Weg, so hofft man, können gewisse Aspekte in Psychodynamik oder Beziehungsschemata des Patienten schneller erkannt und untersucht werden.

Letztendlich geschieht all das jedoch im Kontext therapeutischer Gespräche; ohne die Expertise des Psychologen wäre die Qualität der Behandlung nicht garantiert. Umso wichtiger ist es mir als Therapeutin, mögliche Ängste und Zweifel gegenüber diesem noch sehr ungewohnten Thema auszumachen und anzugehen. Dieser Blog ist ein erster Schritt in Richtung Aufklärung und Vertrauen, hier möchte ich regelmäßig neue Ideen, Entwicklungen, Studien aber auch die Menschen dahinter vorstellen. Bei Fragen und Anregungen schreiben Sie mir gerne!

11. April 2017 | Vanessa Murri

Vanessa Murri

Vanessa Murri ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Seit 2006 lebte und arbeitete sie in unterschiedlichen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden, Deutschland, Österreich und der Schweiz. Neben ihrer Tätigkeit als klinische Psychologin beim internationalen Therapeutennetzwerk Stillpoint Spaces in Berlin hat sie unterschiedliche Projekte konzipiert und realisiert, unter anderem die vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Film-Recherche Reihe Station B 3.1 (2015). Ihr 2016 verfasstes Märchen “Mana, Tapu & Tokelau” hat die Handlung zum Tanzfilm „Trieb“ inspiriert.