Digital diagnostizieren? – Ein Gespräch mit Ies Dijksman

Ies Dijksman lebt und arbeitet als Psychologin in Maastricht, den Niederlanden. Neben ihrer psychologischen Arbeit im eHealth Sektor hat sich Ies Dijksman auf Content Development spezialisiert. Ein Gespräch mit der Forscherin nach ihrem Vortrag auf dem jährlichen Berliner Kongress der DPGGN, der ältesten und größten Vereinigung von Psychologen und Psychiatern in Deutschland.

Frau Dijksman, in den Niederlanden laufen die Entwicklungen zu eHealth-Tools auf Hochtouren – woran arbeitet man zurzeit und wann können ähnliche Schritte in Deutschland erwartet werden?

In den Niederlanden gibt es ein anderes Gesundheitssystem als in Deutschland. Menschen, die medizinische Unterstützung brauchen, suchen zuallererst einen Hausarzt auf. Die Untersuchung dauert meist nur zehn Minuten, dann formuliert der Hausarzt bereits eine erste Diagnose. Besteht der Verdacht auf ein psychologisches Problem (diagnostiziert nach dem DSM-V*), vermittelt der Hausarzt den Patienten entweder an eine Akutversorgung (temporäre Behandlung) oder, bei komplexeren Störungsbildern, an eine Langzeittherapie. Das bedeutet: In Holland gibt es keinen direkten Zugang zu einer psychotherapeutischen Betreuung, ein Überweisungsschreiben ist unabdingbar für den Beginn einer Therapie. So entwickelt man in den Niederlanden aktuell ein eDiagnostic-Tool, um den Hausarzt bei dieser Aufgabe zu unterstützen.

 * Das im holländischen, ursprünglich amerikanischen psychologischen Gesundheitssektor verwendete Standard-Werk “Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders”.

Gibt es bereits erste Erkenntnisse darüber, wie gut der Einsatz von digitalen Programmen im Diagnostik-Bereich funktioniert?

An der Universität Maastricht testen wir die Validität dieser Programme. Für Diagnostik-Tools in der Akutversorgung konnten wir bislang einen positiven Effekt ausmachen. Wir haben auch überprüft, in welchen Phasen die Tools eingesetzt werden können, zum Beispiel wenn Patienten bereits überwiesen wurden und sich nun vielleicht auf einer Warteliste oder im Anmeldungsprozess befinden. Das ist eben auch für die Länder interessant, in denen ein direkter Zugang zu speziellen Einrichtungen möglich ist. Also ist es sehr wahrscheinlich, dass bald auch Länder wie Deutschland nachziehen. Damit das aber passieren kann, müssen die digitalen Diagnostik-Tools übersetzt und je nach Klinik der Klassifikation des ICD 10 angepasst werden. Neue Forschungen müssen dann ebenfalls durchgeführt werden, um die deutsche Version der eDiagnostic zu verifizieren.

Wie laufen die Blended-Care-Testverfahren genau ab?

Zuerst beantworten die Patienten online einige Fragen. Darauf basierend suggeriert das System automatisch einige DSM-V-Klassifikationen, die der Arzt anschließend in einer persönlichen Sitzung überprüft. So bekommt er einen Überblick: Welche psychologischen Probleme sind sichtbar geworden und welcher Therapieansatz wäre angemessen? Deswegen kann das System den Medizinern aktiv bei der Diagnose und Klassifikation psychischer Probleme helfen, selbstverständlich aber sollte es nicht als Ersatz professioneller Entscheidungskraft gesehen werden.

Das heißt, Sie können sich auch nicht vorstellen, dass klinische Diagnostikverfahren in der Zukunft ausschließlich von digitaler Software durchgeführt werden?

Ich halte die Diagnostik von mentalen Problemen für sehr komplex und deswegen stellen digitale Testverfahren für mich auch keinen Ersatz dar. Wie die Patienten die Fragebögen ausfüllen, hängt auch zum Teil von ihrem Grad an Bildung und ihrer individuellen introspektiven Fähigkeit ab. Auch der Umfang ihres mentalen Leidens kann die Testergebnisse beeinflussen. Deshalb ist das System darauf ausgerichtet, das Übersehen von Symptomen zu verhindern. Doch das bedeutet auch, dass falsche Symptome ausgemacht werden könnten. Deswegen ist es unabdingbar, dass Ärzte die Ergebnisse nach eigener Urteilskraft interpretieren, um mögliche sich überschneidende Symptome oder Differentialdiagnosen im Blick zu haben. Präzisere Fragen in den Testverfahren wären eine Möglichkeit, Psychologen noch viel gezielter zu unterstützen.

10. April 2017 | Vanessa Murri

Vanessa Murri

Vanessa Murri ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Seit 2006 lebte und arbeitete sie in unterschiedlichen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden, Deutschland, Österreich und der Schweiz. Neben ihrer Tätigkeit als klinische Psychologin beim internationalen Therapeutennetzwerk Stillpoint Spaces in Berlin hat sie unterschiedliche Projekte konzipiert und realisiert, unter anderem die vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Film-Recherche Reihe Station B 3.1 (2015). Ihr 2016 verfasstes Märchen “Mana, Tapu & Tokelau” hat die Handlung zum Tanzfilm „Trieb“ inspiriert.