Online-Interventionen

Eine Möglichkeit, die Wartezeit therapeutisch zu nutzen, Nachsorge zu intensivieren und stationäre Aufenthalte zu reduzieren.

Die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt stetig. Mit der häufigen Komorbidität von psychischen Erkrankungen nimmt auch die Arbeitsunfähigkeit zu. „Mit rund 246 Ausfalltagen je 100 Versicherte wurde 2016 in Deutschland ein neuer Höchststand erreicht“, schreibt der Tagesspiegel.

Obwohl die medizinische Versorgung mit ca. 2000 Krankenhäusern und 500.000 Betten in Deutschland zu den besten der Welt gehört und die Zahl der Therapeuten und Ärzte stetig steigt, müssen Patienten mit psychischen Erkrankungen nach der Bundespsychotherapeutenkammer durchschnittlich drei Monate auf ein Erstgespräch bei einem Psychotherapeuten warten. In ländlichen Regionen seien es rund vier, in Brandenburg sogar fünf Monate. Bis eine Psychotherapie beginne, dauere es weitere drei Monate.

Rund 31.000 kassenzugelassene Psychotherapeuten gibt es laut kassenärztlicher Bundesvereinigung in Deutschland. Begrenzte Kassensitze für Psychotherapeuten in Kombination mit stark ansteigenden Patientenzahlen führen dazu, dass sich die Situation wohl erst einmal nicht entspannen wird. 2011 waren laut einem Artikel der Süddeutschen Zeitung fünfzig Prozent mehr Menschen aufgrund von psychischen Erkrankungen krankgeschrieben als noch im Jahr 2000. Denn mehr und mehr Menschen stehen zu ihrem psychischen Leidensdruck und wollen sich behandeln lassen.

Neben der langen Wartezeit in der Praxis verzeichnet die stationäre Behandlung psychischer Erkrankungen gute Ergebnisse bezüglich Genehmigung und Wartezeit. Aber: Stationäre Maßnahmen sind immer noch sehr kostspielig. Das Ziel von Online-Interventionen ist es daher, die Qualität der primären und sekundären psychotherapeutischen und psychiatrischen Versorgung durch hochwertige und wirtschaftlich nützliche Interventionen zu unterstützen. Der Einsatz von wissenschaftlich validierten Online-Interventionen in Kombination mit persönlichen Therapiesitzungen und therapeutischen Gruppen könnte die stationäre Behandlung intensivieren. Die Behandlung in der Klinik könnte sogar verkürzt werden, womit die Kosten des Klinikaufenthalts reduziert werden. Gleichzeitig könnte man das gesamte Therapieprogramm durch webbasierte Vor- und Nachsorgeprogramme verlängern sowie die Qualität der Behandlung aufwerten, indem man das Selbstmanagement des Patienten mithilfe von e-health verbessert. Patienten, die nach einem Klinikaufenthalt auf einen Therapieplatz warten, könnten erlernte Inhalte am Computer wiederholen. Patienten ohne stationären Aufenthalt könnten über Onlineinterventionen auf die Therapie vorbereitet und grundversorgt werden, damit sich ihr Zustand nicht weiter verschlechtert und die Motivation des Patienten, die Therapie fortzuführen, erhalten bleibt. Indem wir neue Medien in der Psychotherapie verwenden, die beispielsweise Testverfahren automatisch versenden und auswerten, bieten wir dem Therapeuten außerdem angenehmere Arbeitsbedingungen. Zentral ist dabei das Prinzip von Blended Care. Webbasierte Plattformen in der Psychotherapie können die Kommunikation zwischen Patient und Therapeut erleichtern sowie den Austausch im multidisziplinären Team verbessern. Ein weiteres Ziel ist es, die Rückfallquote durch eine intensivere Betreuung nach dem stationären Aufenthalt über Online-Interventionen zu verringern.

Wir sehen das onlinebasierte Versorgungskonzept als einen digitalen Werkzeugkasten für den Therapeuten der ambulanten und stationären Versorgung. Bei Embloom zum Beispiel erhält der Behandler von Embloom ein Konto mit eigenen Zugangsdaten. Er stellt individuell zusammen, welche Behandlungselemente der Plattform er seinem Patienten bereitstellen möchte. Dieser erhält nach einem persönlichen Gespräch eine Benachrichtigung mit Log-in-Daten per E-Mail, um sich in seinen eigenen Bereich der Plattform einzuloggen. Dies gelingt vom Computer, dem Tablet oder dem Smartphone. Im Hauptmenü kann er sehen, welche Anwendungen und Testverfahren ihm neben den therapeutischen Sitzungen als eine Art Hausaufgabe gesendet wurden. Wenn er Fragen zu den Anwendungen hat, kann der Patient seinem Therapeuten über die Plattform schreiben. Testergebnisse werden automatisch geteilt, dokumentierte Inhalte der Tagebuchfunktion oder Ergebnisse von therapeutischen Übungen kann der Patient für sich behalten, wenn er dies wünscht.

Es bleibt festzuhalten, dass Patienten in Deutschland viel zu lange warten müssen, bis sie psychotherapeutisch versorgt werden. Das Warten auf einen Therapieplatz kann den Zustand des Patienten verschlechtern oder die Motivation, sich therapieren zu lassen, senken. Stationäre Aufenthalte inklusive Nachsorgeprogramme müssen daher so gestaltet werden, dass das Warten auf einen Termin bei einem niedergelassenen Therapeuten durch ein gestärktes Selbstmanagement ohne Rückfall überbrückt werden kann. Außerdem sollte der Patient ohne stationären Aufenthalt, der sich in der Wartezeit befindet, ohne klinischen Aufenthalt stabilisiert werden, bis er bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten versorgt wird. Mithilfe von webbasierten Onlineinterventionen könnte dies schon bald in Deutschland möglich sein.

11. Mai 2018 | Vanessa Murri

Quellen:

Thomas, C. (2015): Warten, bis der Arzt kommt. Süddeutsche Zeitung, Heft 09/2015 Gesundheit

Woratschka, R. (2017): Fehlzeitenrekord wegen psychischer Leiden, Der Tagesspiegel 27.01.2017. Verfügbar unter: https://www.tagesspiegel.de/politik/krankheitsstand-in-deutschland-fehlzeiten-rekord-wegen-psychischer-leiden/19313458.html

Deutsche Rentenversicherung (2016): Jahresreport. Verfügbar unter: https://www.deutsche-rentenversicherung.de/Allgemein/de/Inhalt/5_Services/03_broschueren_und_mehr/02_fachliteratur/jahresbericht_download.pdf?__blob=publicationFile&v=35

Vanessa Murri

Vanessa Murri ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Seit 2006 lebte und arbeitete sie in unterschiedlichen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden, Deutschland, Österreich und der Schweiz. Neben ihrer Tätigkeit als klinische Psychologin beim internationalen Therapeutennetzwerk Stillpoint Spaces in Berlin hat sie unterschiedliche Projekte konzipiert und realisiert, unter anderem die vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Film-Recherche Reihe Station B 3.1 (2015). Ihr 2016 verfasstes Märchen “Mana, Tapu & Tokelau” hat die Handlung zum Tanzfilm „Trieb“ inspiriert.